House of the Rising Sun

Jetzt & Hier 18. Oktober 2020

ich habe ein Haus, ich weiß gar nicht mehr, wann ich es gebaut habe. ich glaube den Grundstein dafür habe ich als 8-jähriger gesetzt, und ich wohne darin seit ich anfing zu rauchen, also seit meinem 17ten Lebensjahr.

Hinter meinem Haus erstreckt sich eine weite Landschaft bis zu den Bergen hin, an deren schneebedeckten Gipfeln das Licht zuweilen silbern und purpurn, an klaren Tagen mitunter auch golden leuchtet. 
Dazwischen schmiegen sich weite Wiesen an duftende und geheimnisvolle Wälder, an deren Bachläufen scheue Undinen leben, die man manchmal aus den Augenwinkel wahrnehmen kann.
Leichter zu entdecken sind die Sylphen, deren Tanz zwischen den Bäumen mir immer als Flimmern in der Luft offenbar wird, eine meiner frühsten Erinnerung übrigens.
Auch die Waldgeister sind mir vertraut, aber früher noch kamen sie zu mir, als ich noch unbefangen war, und niemandem erzählt hatte von dem was ich sehe.

Als ich davon in der Schule berichtete, erklärte man mir, dass das nicht stimme, dass wirklich nur sei, was man anfassen und was alle sehen könnten.
Diejenigen Erwachsenen, die mir wohlgesonnen waren, zeigten sich besorgt über meine Phantasie, andere vertraten andere Urteile.

Aus solcherlei Urteilen ist mein Haus gebaut, wobei zugegebener Maßen die meisten dieser Urteile von mir stammen. Dem Putz ist die Mauer nicht anzulasten und bisher vermochte niemand mich so zu hassen wie ich mich selbst.
Das ist auch einer der Gründe, weshalb ich selten zuhause bin.

Viel lieber bin ich draußen. Am Liebsten liege ich auf einer der Wiesen hinter dem Haus und betrachte das Wogen von Halmen, Ähren und Blüten im Wind. Gerne verliere ich mich im Anblick still vorüberziehender Wolken, und wenig vermag mich mehr zu besänftigen als das Flüstern des Windes in den Bäumen.
Bäume sind die friedlichsten Geschöpfe auf Erden.

Auch in den Bergen war ich schon, mehrfach sogar. 
Dort in der Stille berührte ich den Himmel und sprach zu den Sternen.
Übrigens ist den Sternen unsereins vollkommen gleichgültig. Sie waren schon da, bevor die Dinosaurier unsere Welt erkundeten, und sie werden noch da sein, wenn nichts mehr an eine Menschheit erinnert. So wie ihr Licht Äonen brauchte, um überhaupt zu uns gelangen, wird auch unser Licht Äonen brauchen, um sie zu erreichen. Und was werden wir anderes sein als ein Wimpernschlag in der Wahrnehmung einer So-heit, die ihre Existenz in Milliarden terranischer Jahre misst?

Dem Licht selbst sind wir nicht egal, aber von Licht, Himmeln und dem Kosmos mag ich an dieser Stelle nicht weiter sprechen.
Was weiß ich schon davon?
Je mehr ich zu wissen vermeine, desto klarer wird mir, wie viel ich noch zu lernen habe, und wenn ich mir ansehe, wo mein Haus steht, dann wird deutlich, dass da noch viel Luft nach oben ist.

Oft sitze ich dort rauchend auf der Veranda, oder stehe ans Geländer gelehnt, unter mir der Abgrund, in den ich mich als 8jähriger dann doch nicht gestürzt habe. Er ist immer geblieben, er war immer da. Als Verlockung, als Tal grenzenlosen Selbstmitleids, aber auch als Kristallisationspunkt von Freiheit.
Im Angesicht des Todes wird das Leben sehr deutlich, und unbestritten auch sehr lebendig.
Aber es stimmt auch, was Nietzsche sagte: starrst Du lange genug in den Abgrund, starrt der Abgrund irgendwann zurück.
In solchen Momenten pflege ich meine Zigarettenkippen hinein zu schnipsen.

Ich würde mein Haus gerne verlassen, und mich anderswo niederlassen.
Jahrelang zog ich deshalb umher, zwischen den Weiten der Ebene und dem Gebirge, allein sesshaft vermochte ich nicht zu werden.
Du kriegst den Jungen aus dem Ghetto, aber das Ghetto nicht aus dem Jungen.
Aber ist das wirklich so?
Ist das wirklich genau so?

ich glaube das nicht, ich glaube an ‚Narrativium‘.
es ist was, was es ist, denke ich, aber es war und wird sein, wofür man es hält.
Leben ist lebendig, aber über den Augenblick hinaus, der schon schwer zu erfassen ist, ist Leben Geschichte, ist Leben Erzählung.

Ich wohne nicht in einem Haus am Abgrund. Ich war dort, ja. Aber ich lebe nicht dort, ich lebe hier. Ein hier übrigens, das im Laufe meines Lebens derart häufig  den Wohnort gewechselt hat, das selbst Einwohnermeldeämter das schon als Wanderschaft bezeichnen könnten. Auch macht es einen Unterschied, ob man sein Leben als Wanderschaft begreift, oder als Häuslesbesitzer, besonders wenn man bedenkt, das alles endlich ist in jener Welt, die man mich als die Wirkliche zu verstehen lehrte. Nach meinem Ableben will ich dem Tod lieber von einer Wanderschaft berichten, als von Immobilienbesitz, ganz gleich ob in der Schlossallee oder der Bahnhofstraße.

Häuser wie Räume aber entstehen durch Grenzen, Grenzen letztendlich dessen was wir für möglich halten um demjenigen Raum zu geben, was wir als notwendig erachten.
Aber das bin nicht ich.

Ich bin. Ich bin ich, ich bin Du, ich bin Aurelin, ich bin Schriftsteller.
Ich erfinde Geschichten und erzähle sie mit Worten.

Menschen hinterfragen Geschichten meist nach ihrem Wahrheitsgehalt, aber es gibt keine Wahrheit, das heißt es gibt durchaus eine Wahrheit, wir aber haben nur eine Vorstellung davon, und wenn wir über Wahrheit sprechen, haben wir sie nur als sehr begrenztes Modell, eines das zudem meist strittig ist, und wie könnte so etwas wie echte Wahrheit strittig sein?

Wirklichkeiten, die haben wir. Jeder seine eigene, aber auch die ist nur Geschichte. Sie war Geschichte, ist faktische Realität im jeweiligen Hier & Jetzt, und Fiktion in der Zukunft. Eine Datenspur mit Zeitlinie. Hochkomplex und gleichermaßen total simpel. Ein geheimnisvolles Mysterium wie das Universum selbst, hinterlegt in Banalitäten, tausendmal schon gesehen, tausendmal schon gehört, wie langweilig.

Unterdessen sitze ich auf meiner Terrasse unter dem Dach des Balkons über mir und rauche. Es regnet. In den meisten Fenstern um mich herum ist es dunkel, nur in einem noch wird in bläulichen Flackern irgendein Konflikt ausgestrahlt.
Wir alle träumen, immerfort.

Auf meinem Bett liegt mittig, so dass für mich kaum noch Platz bleibt, mein Kind und schläft, und in seinem linken Arm schläft Mama Eselchen.

Erinnerst Du Dich noch an Dein wichtigstes Kuscheltier? weißt Du noch, wie es hieß? lebt es noch?
Wir alle träumen, immerfort.
und ich sitze zwei Meter weiter, in der Rechten eine Zigarette, vielleicht wieder eine dieser Letzten und betrachte dieses rote Glühen in der nasskalten Nachtluft.

Irgendwo habe ich ein Haus am Abgrund, in dessen Keller gerade die Sonne aufgeht, eine House of the Rising Sun.
Ich muss das Haus gar nicht abreissen, kein Staub, keine Plackerei. Die Sonne strahlt es in die Unendlichkeit ab, wo es nach wie vor den Sternen am Arsch vorbei geht.
Es gibt keine Grenzen, es gibt nur eine Geschichte, die wir schreiben.
Ich war noch nie jenseits der Berge, nie bin ich über den Horizont hinaus gegangen. Aber wenn Zeit nicht jetzt ist?

wann dann?

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